Watchman Nee (1903-1972), ein Diener Gottes im 20. Jahrhundert, förderte ganz wesentlich die Ausbreitung des christlichen Glaubens in China und starb als Märtyrer in kommunistischer Haft. Sein Leben und seine Bücher sprechen übereinstimmend von der kompromisslosen Nachfolge Christi in unserer Zeit.
Als Dritter von neun Kindern einer traditionell christlichen Familie wurde Watchman Nee (Ni Shu-zu) 1903 in Foochow, China, geboren. Mit 17 Jahren kam er zum ersten Mal durch die Predigt der Evangelistin Dora Yü mit dem lebendigen Gott in Berührung. Unter viel innerem Kampf öffnete er sich gegenüber Jesus Christus und erfuhr seine Anwesenheit und Retterliebe. Spontan war ihm klar, dass es nicht nur um Errettung ging, sondern um ein Leben in der Nachfolge und im Dienst für den Herrn. Bis dahin schienen ihm aufgrund seiner Begabung alle Wege für eine ambitionierte Karriere offen. Doch nun erkannte er all seine früheren Pläne im Vergleich zu dem herrlichen Christus als nichtig und entschied sich, dem zu folgen, der ihn berufen hatte. Sogleich verließ er das College und schrieb sich in Dora Yüs Bibelschule ein. Sein Eifer bekam den ersten Dämpfer, als er die Schule verlassen musste, weil er die strengen Regeln nicht beachtete. Zum College zurückgekehrt, wollte sich dort niemand so recht bekehren, obwohl er zu vielen über den Glauben sprach. Eine ältere Gläubige riet ihm, Sünden, ungute Gewohnheiten und alles, was sonst zwischen ihm und dem Herrn stand, auszuräumen. Dann solle er sich eine Liste aller Personen anfertigen, für jeden von ihnen täglich beten und sorgfältig darauf achten, welche Gelegenheit ihm der Herr für ein Gespräch geben würde. Er folgte diesem Rat, und nach einigen Monaten hatten alle 70 Personen, mit Ausnahme eines Klassenkameraden, Jesus Christus als ihren Herrn aufgenommen (siehe: „Ein Zeugnis“).
Das Evangelium lief weiter, und innerhalb kurzer Zeit bekehrten sich Hunderte von Menschen an seinem College und in der Stadt. Mit einem 5 Jahre älteren Mitarbeiter leitete Watchman Nee ein Team, das die evangelistischen Aktivitäten in Foochow und Umgebung plante. Doch ihre Zusammenarbeit gestaltete sich oft wenig harmonisch. Schließlich wandte er sich mit dieser Not an Miss Barber, eine Missionarin in seiner Stadt. Sie ermutigte ihn, sich durch die Gnade des Herrn dem Älteren unterzuordnen und das Kreuz zu tragen. Später bezeichnete er die zwei folgenden Jahre als die wichtigsten seines Lebens. Er lernte Christus, den Gekreuzigten, im Umgang mit seinen Glaubensgeschwistern besser kennen, nahm die Schwierigkeiten von Gott an und bewältigte sie durch seine Gnade. Damals schrieb er die ersten Artikel über das Kreuz – Ausdruck seiner tiefen Erfahrung des gekreuzigten und auferstandenen Herrn (siehe: „Das Wort vom Kreuz“).
Mit 19 Jahren gab Watchman Nee sein Studium auf, um dem Herrn zu dienen. Seine Entscheidung, Gott für seinen Lebensunterhalt völlig zu vertrauen, war ungewöhnlich, denn jeder Prediger suchte sich eine Institution für die finanzielle Unterstützung. Doch in vielen Glaubenserfahrungen bestätigte ihm Gott seine Fürsorge.
Sein Tagesablauf war äußerst diszipliniert. Schon morgens um 4 Uhr stand Watchman Nee auf, betete und tauchte in das geliebte Wort der Schrift ein, las immer wieder die ganze Bibel durch und hatte schon in jungen Jahren den Ruf eines hervorragenden Bibelkenners. Gleichzeitig studierte er die Werke großer geistlicher Lehrer, vor allem aus dem englischen Sprachraum, wie Panton, Govett, Penn-Lewis, Darby, McDonough, Mackintosh, Murray u.a., nicht ohne den geistlichen Reichtum für sich und die Gläubigen um ihn herauszufiltern, zu verarbeiten und umzusetzen.
Gemeindeaufbau
Während einige seiner Mitarbeiter weiterhin nur die Evangelisation vor Augen hatten, betonte Watchman Nee die gleichzeitige Unterweisung der jungen Gläubigen in der Schrift und der Erfahrung des lebendigen Gottes, im Gebet und Lebenswandel und im Aufbau von Gemeinden.
Doch was war die biblische Grundlage für den Aufbau einer Gemeinde in Einheit angesichts zahlreicher Konfessionen, Denominationen und Missionsgesellschaften, denn das Wort Gottes bezeichnet Trennungen unter den Christen als falsch und sogar fleischlich. Musste man die Geschichte der Spaltungen einfach fortsetzen oder bot das Neue Testament in Hinblick auf die vielen Spaltungen eine Alternative für den Aufbau der Gemeinde in Einheit? Watchman Nee entdeckte zuerst in der Apostelgeschichte, dann in den Briefen und der Offenbarung, dass die Gemeinden jeweils örtlich begrenzt waren. Jede örtliche Gemeinde war nur Gott gegenüber verantwortlich und keiner übergeordneten Institution. In diesem Rahmen sollte die Einheit der Gemeinde, also auch die Einheit unter den Christen, praktiziert werden. Erst 1938 legte Watchman Nee diese einfache, aber wichtige Entdeckung in dem Buch „Das normale Gemeindeleben“ nieder. Allerdings wurde diese Schrift über das biblische Gemeindeverständnis von den etablierten Konfessionen und Organisationen abgelehnt, während seine sonstigen Schriften in zahllosen christlichen Verlagen erschienen.
Mündliche und schriftliche Verkündigung
Watchman Nee predigte in der Provinz und auf den nahen Inseln, später in Shanghai und Nanking das Evangelium. Gemeinden voller Leben entstanden, täglich kamen Menschen neu zum Glauben an Christus. Ziel seiner Arbeit war es immer, die jungen Gläubigen möglichst bald in die beständige Erfahrung des Auferstandenen zu bringen, indem sie lernten, der Schrift und der Leitung des heiligen Geistes im Alltag und im Gemeindeaufbau zu folgen.
In einem neu gegründeten Verlag veröffentlichten Watchman Nee und seine Mitarbeiter das Wort, das sie auch in den Gemeinden verkündeten: über die Errettung, das Leben durch Christus und den Aufbau der Gemeinde. Sie übersetzten geistliche Schriften aus dem Englischen und gaben sie in Form von Büchern bzw. in den recht umfangreichen Zeitschriften „Der Christ“ und später „Das gegenwärtige Zeugnis“ heraus. Diese erfuhren eine so große Nachfrage unter den Gläubigen in China, dass man nach anfänglich halbjährlicher auf eine monatliche Herausgabe überging.
In Pinjiang empfingen Gläubige durch die Schriften Hilfe und luden Watchman Nee und einige Mitarbeiter ein. Diese mieteten einen Raum und hielten regelmäßig Vorträge, vor allem über den ewigen Plan Gottes und über den Sieg Christi. Durch die Gnade Gottes breitete sich das Evangelium in den folgenden vier Jahren in der ganzen Gegend aus, Tausende von Menschen kamen zum Glauben und blühende Gemeinden entstanden.
Der Herr, sein Arzt
Schon 1924 waren bei Watchman Nee die ersten Symptome einer Krankheit aufgetreten. Zwei Jahre später fesselten ihn nächtliche Hustenanfälle, zunehmende Schwäche, Fieber, Schweißausbrüche und Schmerzen schließlich ganz ans Bett: Lungentuberkulose. Der Arzt prognostizierte ihm den Tod in wenigen Wochen. Angesichts seines zu erwartenden Endes hatte Nee bereits begonnen, als Lebenswerk ein mehrbändiges Werk „Der geistliche Mensch“ zu schreiben, und nun vollendete er es mit letzter Kraft. Zum Skelett abgemagert, war sein Leben am Erlöschen. Da schrie er nochmals zum Herrn, und der Herr antwortete ihm. In diesem Augenblick spürte er, wie die Krankheit eine Wendung nahm (nachzulesen in „Ein Zeugnis“). Nach einigen Tagen, immer noch sehr schwach, gab er in der Gemeindeversammlung wieder eine längere Mitteilung. Das mehrbändige Werk wurde 1928 gedruckt, erfuhr noch eine zweite Auflage, doch später schrieb er: „Als ich wieder gesund war, zeigte mir Gott, wozu er mir das Wort für meine Mitteilung gab: Nicht in erster Linie für die Auslegung der Schrift, sondern damit ich den Weg des Lebens betone, den lebendigen Weg, und die Kinder Gottes in ihrem geistlichen Leben und Kampf unterstütze und ihnen helfe, die Wahrheit zu bezeugen und die Gemeinde zur Reife zu bringen.“
Die Gemeinde in Shanghai
Im Jahr 1927 zogen Watchman Nee und einige Geschwister nach Shanghai, wo das Gemeindeleben durch sie viel geistliche Ermutigung und Wachstum erfuhr. Sämtliche Literatur erschien jetzt im dortigen Verlag „Church Gospel Book Room“.
Watchman Nees Anliegen war es also fortan, die Gläubigen in der Erfahrung des Lebens Christi und im geistlichen Kampf zu stärken. Jeder sollte den Herrn persönlich kennen, der Leitung des Geistes folgen und so die Gemeinden aufbauen, durch die sich Gott offenbaren konnte. In zahlreichen Konferenzen ermutigte er seine Mitarbeiter, das Evangelium nicht allein lehrmäßig zu verkündigen, sondern das Leben Gottes zu vermitteln. Die Erfahrung des Kreuzes sollte gleich zu Beginn des Glaubenslebens eine zentrale Rolle spielen.
Bald fühlte sich Watchman Nee wieder stark genug, zu reisen. Einladungen aus dem In- und Ausland brachten ihn in den Südwesten Chinas, nach Malaysia, Singapur und auf die Philippinen.
Kontakt zu Brüdergemeinden
Brüdergemeinden aus England hörten von den lebendigen Gemeinden in China und schickten eine Delegation nach Shanghai. 1933 luden sie Watchman Nee nach England, USA und Kanada ein. Der Kontakt entwickelte sich jedoch recht schleppend und wurde zwei Jahre später von den Brüderge-meinden wegen des unterschiedlichen Abendmahlsverständnisses abgebrochen.
Charity
1934 heiratete er Charity Chang. Mehr als 10 Jahre zuvor hatte er seine Beziehung zu ihr schweren Herzens abgebrochen, weil sie damals noch nicht gläubig war. Doch nun wurde bekannt, dass sie Christus ihr Leben übergeben hatte, getauft worden war und als ernsthafte Gläubige dem Herrn diente. Nach viel Gebet um Klarheit über Gottes Willen entschied er, sie zu heiraten. Es wurde eine Ehe in schwerer Zeit.
Weitere Literaturarbeit
Watchman Nee verstand es, tiefe geistliche Wahrheiten in überraschend einfacher Weise darzustellen, zugleich geistliche Nahrung zu vermitteln und zur praktischen Erfahrung anzuleiten. Das zog viele suchende Christen an, was wiederum für Unwillen und ungerechtfertigte Angriffe aus dem etablierten Christentum sorgte. Als sich ein Mitarbeiter über Verleumdungen ereiferte, sagte er traurig: „Auch Christen können lügen.“ Er verteidigte sich nie, solche Situationen betrachtete er vielmehr als ihm von Gott verordnet, das Kreuz zu tragen.
Seine Mitarbeiterinnen Ruth Lee und Peace Wang bearbeiteten zahlreiche Konferenzen für die Veröffentlichung. Unter anderem erschienen die Bücher „Das Gebet der Gemeinde“, „Der normale Glaube“ und „Die herrliche Gemeinde“. Er selbst schrieb Artikel für seine Zeitschrift, übersetzte und verfasste geistliche Lieder für das Liederbuch der Gemeinden, das den Titel „Lieder der kleinen Herde“ trug. (In Ermangelung eines Namens wurden die Gemeinden von anderen Christen nach ihrem Liederbuch „Die kleine Herde“ genannt. Die Gemeinden selbst gaben sich allerdings bewusst keinen Namen außer dem des Ortes, in dem sie sich versammelten).
Zweite Europareise
Noch einmal machte sich Watchman Nee 1938/39 auf die Reise nach Europa, besuchte eine Konferenz in Keswick, England, und folgte diversen Einladungen für Vorträge und Konferenzen in Norwegen, Deutschland, Schweiz und Dänemark. In Kopenhagen beschrieb er anhand des Römerbriefes, wie durch das vergebende Blut Christi und das Leben des Auferstandenen ein freies und starkes, also ein normales Glaubensleben möglich ist. Ein junger englischer Missionar begleitete ihn und machte sich fleißig Notizen. Erst Jahrzehnte später veröffentlichte er sie als Buch unter dem Titel „Das normale Christenleben“, welches sofort eine große Verbreitung fand. Aus Vorträgen in England über die drei Stufen im Glaubenswachstum gemäß dem Epheserbrief gelangte „Sitze, wandle, stehe“ zur Veröffentlichung. Auch diese Schrift zählt heute zu den Klassikern.
Prüfung und Wiederherstellung des Dienstes
Nach seiner Rückkehr herrschte in Shanghai aufgrund der japanischen Invasion große Not. Watchman Nees Bruder besaß ein Pharma-Unternehmen und bat ihn um Hilfe. So sah er es als eine Gelegenheit, die Gemeinde und das Werk der Ausbreitung finanziell zu unterstützen. Auch Paulus hatte ja gelegentlich für seinen Bedarf und den seiner Mitarbeiter gearbeitet. Watchman Nee konnte in der Tat einige Gemeindeglieder einstellen und reisende Mitarbeiter unterstützen. Obwohl das Unternehmen viel Zeit und Energie absorbierte, diente er weiter in der Gemeinde. Die Ältesten in Shanghai betrachteten sein weltliches Engagement allerdings mit Skepsis. Schließlich (1940) baten sie ihn, von seinem Dienst des Wortes zurückzutreten. Er verteidigte sich nicht und predigte nicht mehr in den Versammlungen. Wenig später musste die Firma nach Tschungking verlegt werden, wo sie wegen Mangel an Grundstoffen bald geschlossen wurde. Watchman Nee erhielt eine Anstellung in der städtischen Verwaltung. Nach Ende des Zweiten Weltkrieges baute man die Firma in Shanghai wieder auf. Watchman Nee konnte bald den dringend notwendigen Bau einer Versammlungsstätte in Shanghai unterstützen und in seiner Heimatstadt ein größeres Grundstück für die Errichtung eines Schulungszentrums erwerben. Inzwischen hatten die Ältesten in Shanghai ihn gebeten, seinen Dienst in der Gemeinde wieder aufzunehmen. Nur zu sehr war ihnen der Verlust durch seine Abwesenheit bewusst geworden. Um freier zu sein, löste er sich aus dem Geschäft und übertrug seine Firmenanteile der Gemeinde. Eine weitere intensive Schaffensperiode begann, die allerdings nicht von langer Dauer sein sollte. Nach dem Ende des Zweiten Weltkriegs waren nun die kommunistischen Truppen Mao Tse-tungs auf dem Vormarsch und im Begriff, das Land einzunehmen.
Die Zeit drängt
Beweglich und in völligem Vertrauen auf die Leitung des Herrn zogen seit 1943 nicht nur einzelne Mitarbeiter sondern auch Gruppen von Familien aus, um das Evangelium zugleich mit dem Gemeindeleben in weitere Orte zu tragen. So verbreitete sich die gute Nachricht schnell auch in entfernte Gegenden Chinas. Durch die Kraft des Wortes und die Gnade des Herrn erfuhren die Hörer oft unmittelbar die Realität des Auferstandenen und fanden im aktiven Gemeindeleben eine gute Versorgung für ihr Glaubenswachstum.
Angesichts der kurzen Zeit, die wegen des aufkommenden Kommunismus für das Evangelium noch blieb, waren die Konferenzen von Dringlichkeit geprägt und behandelten meist grundsätzliche Themen. So stellte Watchman Nee nochmals Christus als alleiniges Zentrum unseres Denkens und Handelns heraus, warnte vor geistlichem Niedergang und betonte die Einheit unter den Gläubigen und das biblische Gemeindeverständnis („Christus, die Wirklichkeit aller geistlichen Dinge“, „Die Gemeinden – Fall und Rückgewinnung“, „Ist Christus denn zertrennt?“). In Mitarbeiterkonferenzen übertrug Watchman Nee seine Anliegen auf alle, die ein Herz hatten zu dienen. Sie sollten sich in einem Wandel nach dem Maßstab Christi für das Evangelium und den Aufbau der Gemeinden ganz hingeben („Der normale Mitarbeiter“).
Als die Grenzen nach außen verschlossen wurden, sprach Watchman Nee gerade auf einer Mitarbeiterkonferenz in Hongkong (1950). Viele rieten ihm, in Hongkong zu bleiben, er hingegen war fest entschieden, nach China zurückzukehren, um den Gemeinden in der Not beizustehen und mit ihnen zu leiden.
Die Gemeinden gerieten zunehmend unter Druck, natürlich war auch Watchman Nee aufgrund seiner Bekanntheit im Visier der Kommunisten. 1952 wurde er schließlich verhaftet, später auch seine treuen
Mitarbeiterinnen, Ruth Lee und Peace Wang, die man wie zahllose Gläubige nie wiedersah. Watchman Nee durchlief eine sehr schwere Zeit der Haft. Nach 4 Jahren machte man ihm den Prozess, in dem er
als „Konterrevolutionär“, „Krimineller“ usw. zu insgesamt 15 Jahren Haft und Arbeitslager verurteilt wurde. Freigelassen wurde er aber nie. Er starb 1972 als Zeuge von Jesus Christus, als ein
Weizenkorn in die Erde gelegt, um viel Frucht zu bringen und den Vater zu verherrlichen.